Warum Europa einen Entbürokratisierungsturbo braucht
Ob Bauantrag, Förderbescheid oder Exportzertifikat – in Europa verbringen viele Unternehmen heute gefühlt mehr Zeit mit Formularen als mit Wertschöpfung.
Text: Nils Langhans
Was früher ein lästiges Detail war, hat sich längst zu einem strukturellen Risiko ausgewachsen. Denn in einer Zeit, in der wir uns bei künstlicher Intelligenz, Quantencomputing oder Energiespeichertechnologien im globalen Wettlauf befinden, entscheidet nicht zuletzt die Umsetzungsgeschwindigkeit über die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Ob wir wollen oder nicht, befinden wir uns längst in einem geopolitischen Wettbewerb der Systeme – und Europa läuft Gefahr, ihn zu verlieren. Denn während autoritäre Staaten wie China ihre Transformationsprojekte mit zentralistischem Durchgriff binnen Monaten realisieren, ringen viele europäische Demokratien mit überlagerten Zuständigkeiten, feingliedrigen Verfahren und regulatorischer Kleinteiligkeit und würgen so ihre Innovationsfähigkeit ab. Klar ist: Demokratie muss den Wettbewerb mit autoritären Systemen nicht fürchten. Im Gegenteil, sie kann sich nicht nur als gerechter, sondern auch als schneller und effizienter erweisen – wenn sie Verwaltung nicht zum Selbstzweck erhebt, sondern als strategischen Hebel für Umsetzung, Innovation und gesellschaftlichen Fortschritt begreift.
Der Preis des Papierkriegs
Die Größenordnung des europäischen Bürokratiemonsters ist immens. Die Unternehmen in der EU geben jährlich allein rund
204 Milliarden Euro für die Einhaltung steuerlicher Melde- und Nachweispflichten aus – fast zwei Prozent ihres Umsatzes. Die Europäische Kommission hat deshalb angekündigt, den administrativen Aufwand bis 2030 um 25 Prozent zu senken, für kleine und mittlere Unternehmen sogar um 35 Prozent. In Deutschland summieren sich die Bürokratiekosten der Wirtschaft aktuell auf 67 Milliarden Euro pro Jahr. Eine Studie des ifo Instituts beziffert die verlorene Wirtschaftsleistung gar auf 146 Milliarden Euro pro Jahr – eine Summe, die in etwa den gesamten jährlichen F&E-Ausgaben der deutschen Industrie entspricht.
Die europäischen Vorreiter zeigen: Es geht auch anders
Dass Staat auch anders geht, zeigt Estland. 99 Prozent aller estnischen Behördenleistungen sind rund um die Uhr online verfügbar. Das System spart dem Land nach Regierungsangaben über 1.400 Arbeitsjahre Verwaltung – pro Jahr. Dänemark gilt ebenfalls als Vorreiter bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Bereits seit 2014 sind dort alle Bürger verpflichtet, digitale Dienste wie die elektronische ID und den digitalen Briefkasten zu nutzen. Dies hat zu einer hohen Akzeptanz geführt: Laut einer aktuellen Studie vertrauen 82 Prozent der Dänen den digitalen öffentlichen Lösungen. Auch Polen hat in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Die App mObywatel bündelt digitale Ausweise, Führerscheine, aber auch Serviceleistungen wie Luftqualitätsabfragen für Millionen Nutzer und soll bis 2026 EU-weit interoperabel sein. Doch es geht nicht nur um neue Software, sondern auch um das Weglassen veralteter Vorgaben. Die Europäische Kommission hat etwa im Frühjahr 2025 die Initiative „Simplification Omnibus“ vorgestellt, wodurch Berichtspflichten in Nachhaltigkeits- und Lieferkettenregeln eingekürzt werden sollen. Auch automatische Sunset-Klauseln für Gesetze, die ihren Nutzen nicht nachweisen können, werden unter anderem in Österreich diskutiert. Solche Mechanismen drehen den legislativen Spieß um: Wer regulieren will, muss Wirkung belegen – nicht umgekehrt.
Zeit für einen Entbürokratisierungsturbo Klar ist: Europa kann sich überbordende Bürokratie als Bremsklotz nicht länger leisten – nicht in der Energiepolitik, nicht bei der Digitalisierung, nicht in der Verteidigung. Denn es geht nicht mehr nur um effizientere Formulare, sondern auch um die Fähigkeit Europas, die eigenen Ziele umzusetzen. Verwaltung ist dabei nicht bloß ein Serviceapparat – sie ist die unsichtbare Infrastruktur, die bestimmt, ob Politik Realität wird. Sie ist damit auch ein Lackmustest für die Handlungsfähigkeit demokratischer Staaten insgesamt. Denn klar ist: Die Legitimität eines Staates bemisst sich auch daran, ob seine Bürger ihn im Alltag als funktional, verlässlich und lösungsorientiert erleben. Wo Verfahren versanden, Fristen verfallen und Vorhaben scheitern, verliert der Staat nicht nur Effizienz – sondern auch Vertrauen. Dass in Deutschland mit dem Start der neuen Bundesregierung erstmals ein Bundesministerium für Digitales und Staatsmodernisierung ins Leben gerufen wurde, ist zwar fraglos ein Schritt in die richtige Richtung, darf aber nur der Auftakt für einen Entbürokratisierungsturbo sein. Europa sollte sich hier vor allem drei Ziele setzen. Erstens: ein verpflichtendes Once-Only-Prinzip für alle EU-Verwaltungen, das die mehrfache Abfrage derselben Daten bei Unternehmen und Bürgern endlich beendet. Zweitens: die Einführung eines europaweiten Bürokratie-Index ähnlich dem PISA-Ranking, der die tatsächliche Last von Berichtspflichten und Genehmigungsdauern transparent macht – als Benchmark und Anreiz zugleich. Und drittens: ein verbindliches Digitalisierungsziel ähnlich den Klimazielen: Bis 2030 sollen 95 Prozent aller behördlichen Leistungen digital, interoperabel und nutzerzentriert verfügbar sein – von der Bauanzeige bis zur Fördermittelvergabe. Kombiniert mit Sunset-Klauseln, smarter Regulierung und einer gezielten Entflechtung föderaler Zuständigkeiten, wäre das der Hebel, um Europa aus dem bleiernen Verwaltungskorsett zu befreien – und dem Staat seine Rolle als Möglichmacher zurückzugeben.
Der Autor
Nils Langhans ist Gründer und Geschäftsführer der Strategieberatung KAUFMANN / LANGHANS. Er berät Unternehmen in den Bereichen Strategy Making, Business Model Design und Equity Storytelling und hat Start-ups aus unterschiedlichen Industrien von der Pre-Seed-Finanzierung bis zum IPO bei der Entwicklung ihrer Equity Story unterstützt.
Kontakt:
nils@kaufmannlanghans.de
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