Speed kills

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EV6 GT: Fünf Minuten Laden reichen dem 585 PS starken Motor für 100 km Reichweite.

Zollschranken, rasante Technologiesprünge, neue Konkurrenten. Die Welt ändert sich rasant. Der südkoreanische Konzern Kia reagiert darauf, indem er sich einfach alle paar Jahre neu erfindet. Und damit zum wohl modernsten Autohersteller der Welt wurde.
Text: Stefan Schatz

Harald Hölzl ist tief beeindruckt: „Die Themenvielfalt, die vielen Neuerungen, die Menge an Innovationsfeldern – das ist unglaublich“, schwärmt er von seinem Besuch im Forschungs- und Entwicklungszentrum von Kia im Süden von Seoul. „Ob Effizienzsteigerung, Kom­fort, Vernetzung, autonomes Fahren, Sicher­heit oder Entertainment: In allen diesen Bereichen werden wir noch stau­nen. Wenn Kia weiter diesen beein­dru­ckenden Weg der Innovation geht, liegt eine großartige Zukunft vor uns“, ist der 49-Jährige von den schon weit gediehenen Plänen des rasant wachsenden Auto-Riesen aus Südkorea fasziniert.

Was um so bemerkenswerter ist, als man Hölzl in Sachen Kraftfahrzeug eigentlich kaum mehr überraschen kann. Er kennt die automotive Branche wie seine Wes­tentasche. Vor 23 Jahren heuerte er noch während seines Studiums in Linz und Stockholm bei BMW an, war für das Unter­nehmen als Brand Director in Zentral- und Südosteuropa unterwegs, um dann nach vier Jahren als Ge­schäftsführer in Tschechien auch noch als Geschäftsführer in Malaysien Asien-Erfahrung sammeln zu dürfen. Im Vor­jahr wechselte er dennoch die Seiten. Er übernahm als Geschäftsführer die Kia Austria GmbH. Der Grund? Den Salz­burger überzeugten die Zukunftsstrategien der ­Südkoreaner. Und die fulminante Modell­offensive. Also: „Pfiat di, Bayern, und Annyeonghaseyo, Südkorea!“

So wie Hölzl scheinen auch viele Autofahrer zu denken. Längst ist Kia auch hierzulande wieder angesagt – und hat weltweit einen Imagewandel vollzogen, wie er nur selten gelingt. Vor allem nicht in diesem Tempo, wie ein Blick in die Firmenchronik zeigt. Gegründet wurde das Unternehmen 1944 als Kyongseong Precision Industry. Man belieferte die ausländische Fahrradindustrie mit Komponenten und fertigte Stahlrohre. Doch Firmengründer Kim Chul-Ho wollte mehr. Er träumte von einer eigenen Fahrradproduktion. 1952, mitten im Koreakrieg, ging sein Traum in Erfüllung. Unter dem Mar­kennamen Samchuly baute er das erste Fahrrad der Halbinsel. Und damit genau das, was die vom Krieg arg in Mitleidenschaft gezogene Bevölkerung zur Mobilisierung brauchte. Samchuly – die Marke existiert heute noch – wurde zum durchschlagenden Erfolg. Und zum Anlass für einen neuen Firmennamen. Kia Industry Company hieß das Unternehmen jetzt, wobei man Kia etwas frei mit „Aufstieg aus Fernost“ übersetzen könnte.

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Harald Hölzl wechselte nach einer international erfolg­reichen Karriere als Chef zu Kia Austria. Der Grund: Ihn überzeugte die Zukunftskompetenz der Südkoreaner.
Ho Sung Song ist seit 2020 CEO von Kia Corp. Sein „Plan S“ gibt schon heute Antworten auf die Frage, wie sich Mobilität in Zukunft verändern wird.
Ho Sung Song ist seit 2020 CEO von Kia Corp. Sein „Plan S“ gibt schon heute Antworten auf die Frage, wie sich Mobilität in Zukunft verändern wird.

Den Puls der Zeit fühlen

Ein Jahr später war der Koreakrieg endlich vorbei. Damals war der noch unter der japanischen Besatzung industrialisierte Norden wirtschaftlich robuster, der Süden ein Armenhaus. Anfang der 60er lag das durchschnittliche Bruttoeinkommen im westlich orientierten Land bei 100 US-Dollar – im Jahr, wohlgemerkt. Kia ging trotzdem in die Offensive. Mit dem iko­nischen Dreirad-Minilaster K-360 be­grün­dete man 1962 die koreanische Fahr­zeugindustrie – heute einer der wichtigsten Exportmotoren des Landes. Ein Jahr später schob Kia mit der C-100 ein Motorrad nach. Wieder traf man den Puls der Zeit exakt. Denn das Regime des Landes setzte auf Industrialisierung. Dazu brauchte man Transporter. Und mobile Arbeitskräfte. Kia sorgte für beides.

Erfolgswellen und Brüche

Dank kräftiger Anschubhilfe der USA ging es mit dem Land schrittweise aufwärts. Auch wenn politische Krisen, ­Regenten mit diktatorischen Anwand­lungen, Massendemonstrationen und Mili­tär­putsche immer wieder für Brüche sorgten. Trotzdem wollten die Südkoreaner mehr. Und legten sich ins Zeug. Der Fokus lag auf Export, Großkonzerne wurden gefördert, die wirtschaftliche Entwicklung in Fünf-Jahres-Pläne gegossen. Kia kooperierte längst überaus erfolgreich mit Konzernen der einstigen Besatzungsmacht Japan. Und schuf mit Unterstützung von Mazda 1973 den Brisa – einen Kleinwagen, der als Taxi über viele Jahre das Straßenbild Seouls prägte. Lizensierte Nachbauten von Peugeot und Fiat folgten, Kia florierte und übernahm Konkurrenten. Bis Anfang der 80er-Jahre ein neuer politischer Umbruch dem Aufschwung ein Ende setzte. Der Bau von Pkw wurde Kia verboten, das Land brauchte Lkw und Kia musste sie liefern.

Größer denken

Aber was machen die Bewohner eines Landes, das in seiner Geschichte mehr als 900 Mal von seinen Nachbarn überfallen wurde? Richtig: Sie geben nicht auf. Das gilt auch für das Kia-Management. Also tauchte man auch durch diese Phase, suchte nach Ende der Restriktionen Kontakt zum US-Autogiganten Ford. Man muss eben groß denken. Zu Recht: Die sparsamen und überaus günstigen Kleinwagen waren auch in den USA begehrt. 1992 wurde in Portland Kia USA gegründet, 1993 drei weitere Autohäuser eröffnet. Das Lächeln, das die kleinen und billigen Kias den an ganz andere ­Dimensionen gewöhnten US-Automa­nagern ins Gesicht zauberten, gefror inner­halb von drei Jahren. Denn: Was die Am­erikaner unterschätzten, ist die schiere Geschwindigkeit, mit der Südkoreaner vorgehen. 1996 gab es in den USA bereits 100 Kia-Autohäuser. Der Kia Pride war ein erster Renner, später folgten mit Sephia und Sportage zwei weitere Exportschlager. Den Sportage, einen der ersten kleinen SUV der Welt, gibt es heute noch: In fünfter Generation feierte er vor zwei Jahren seinen 30er. In Österreich wird heuer jubiliert – hierzu­lande startete Kia erst 1995, der Sportage war das erste Modell in den heimischen Schauräumen. Und es überzeugte gleich mit einer weiteren Kia-Tugend: Halt­barkeit. Tatsächlich ist so manches der damals ausgelieferten Fahrzeuge noch immer im Einsatz, oft auf forderndem Terrain abseits asphaltierter Straßen. Weltweit wurden bislang mehr als sieben Millionen Sportage verkauft. Längst ist nicht mehr der Preis das Hauptargument: Man überzeugt Neukunden mit Quali­tät, endlos langen Garantiezeiten, beein­druckenden Innovationen und rich­tungsweisendem Design.

Stardesigner und Preisregen

Dafür verantwortlich: Peter Schreyer, von vielen als aktuell bester Autodesigner der Welt angesehen. Der ehemalige Kreativchef von Volkswagen, Erfinder des Audi TT und VW Golf IV, nahm 2006 das ­Angebot Kias an – zur allgemeinen Verblüffung der Branche. Was aber viele übersehen haben: Kia hatte sich in­zwischen schon wieder neu erfunden. Denn Ende der Neunziger fiel den Süd­koreanern der Fokus auf Großkonzerne auf den Kopf, die Wirtschaft geriet ins Wanken, auch Kia strauchelte. Hyundai übernahm, sorgte für blitzschnelle Sanie­rung und gemeinsam schmiedete man neue Pläne für eine große Offensive. Diesmal schielte man auf die europäischen Märkte. Dafür brauchte es ein marken­typisches Design. Weshalb man beim Besten an­fragte. Und wusste, wie man ihn köderte. „Kia wollte nicht mehr nur in der Regi­onalliga spielen. Ich hatte die Möglichkeit, etwas von Grund auf zu ent­wickeln. Ich bekam ein weißes Blatt Papier und hatte alle Freiheiten. Solch eine Chance kommt nicht alle Tage“, begründete Schreyer spä­ter seinen Schritt gegenüber der Frank­fur­ter Rundschau. Der erst ­dritte Designer nach den Legenden Sergio Pinin­farina und Giorgetto Giugiaro, dem die Ehren­dok­torwürde des britischen ­Royal College of Art verliehen wurde, nutzte diese Mög­lich­keiten, schuf mit den Modellen Soul und Ceed globale Bestseller und verwandelte Kia-Kühlergrills in das markenprägende „Tigergesicht“.

Der Lohn: Dutzende Auszeichnungen und Design-Awards auf der ganzen Welt. Seit 2013 ist Schreyer einer der drei Präsi­den­ten von Kia, dem mittlerweile der Zusatz „Motors“ folgte. Er ist der erste Nicht­kore­aner, dem diese Ehre zuteil wird. Bis heute ist er vom Ehrgeiz und der Schnel­lig­keit in Südkorea begeistert. „Wenn bei Kia die Entscheidung für ein Auto gefal­len ist, steht sehr schnell der erste Prototyp da. Hier geht alles ohne Umwege und Schleifen“, staunt er über die kon­sequente Rasanz.

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EV9 GT: Der batteriebetriebene Premium-SUV ­repräsentiert den Wandel Kias vom Preisbrecher zum Technologieführer. Mutiges Design, schlaue Technik, viel Komfort und innovative Features wie drehbare Rücksitze führten im Vorjahr zur Auszeichnung als „World Car of the Year“.

Technologieführer

Mit dieser Geschwindigkeit wurde man auch bei der E-Mobilität zu einem der ­globalen Technologieführer. Kias EV-
Serie mit ikonischem Design debütierte im März 2021 mit dem Modell EV6, be­geisterte mit 800-Volt-Schnelllade­tech­nik, die in fünf Minuten 100 Kilometer Reichweite in die Akkus pumpt, über­kompletter Ausstattung und einer Leis­tung von bis zu 585 PS (GT-Version). Das Auto wurde 2022 als erster Kia zum „Car of the Year“ in Europa gewählt. Ein Preis­regen prasselte auch auf die Folgemodelle wie den ­edlen Premium-SUV EV9 und den Mittelklassewagen EV3 nieder, noch heuer komplettieren ein EV4 und im nächsten Jahr ein kleiner Stadtflitzer namens EV2 die elek­trische Angebotspalette.

Die Kia-Konzernspitze selbst beschäftigt sich längst mit anderen Zu­kunftsfragen. Kia-Chef Ho Sung Song arbeitete bei sei­nem Amtsantritt 2020 gleich einen neuen und überaus umfassenden Arbeitsplan aus. Umwelt­bewusstsein rückt in den Fokus, die Elektrifizierung der Modellpalette wird ebenso vorangetrieben wie die Ökolo­gi­sierung der Innenausstattung. Mehr noch: Kia wird vom Autohersteller zum Mobil­macher. Dafür wurden sogar Logo und Fir­menname geändert. Das dauert an­dern­orts Jahre, hier ein paar Monate. Das „Motors“ hinter Kia wurde gestrichen und durch „Corp.“ für Corporation ersetzt. Der Grund: „Autos werden bald zum Mobilitäts-Device, das autonom fährt und mit anderen Fahrzeugen, Wohnungen und Arbeitsplätzen verbunden ist“, erklärt CEO Ho Sung Song gegenüber der „Korea Economic Daily“. Bei dieser Entwicklung wolle Kia nicht länger Marktfolger sein, sondern First Mover. Außerdem solle die Marke jünger werden und die Ansprüche der Gen Z treffen.

Modulare Zukunft Daher denkt man viel weiter als andere Hersteller, die sich noch immer über die richtige Energiequelle für die Fort­bewegung streiten. Etwa, wie man In­nenräume künftig nutzen kann. Oder an Spezialfahrzeuge, die sich modular für Kundenbedürfnisse maßschneidern lassen. Etwa für Lieferdienste oder Gewerbetreibende, die werktags einen Lieferwagen brauchen, der sich am Wochenende in einen Family-Van oder sogar Campingbus verwandelt. Oder der unkompliziert für den sicheren Transport von Rollstuhlfahrern sorgt. Die Idee: Es gibt eine Plattform, worauf ein vom Kunden gewünschtes Grundmodell aufbaut. Dann steht dem Käufer ein komplettes „Einrichtungshaus“ zur Verfügung, aus dem man die passenden Bauteile für seinen Kia wählt. Purpose Built Vehicles heißen solche Spezialfahrzeuge in der Fachsprache, kurz PBV. Eine Zukunftsvision? Vielleicht anderswo. Kia setzt um. Das erste Modell, der PV5, wurde im Frühjahr während der „Kia Design Days“ im spanischen Saragossa vorgestellt. Marktstart in Europa ist 2025.  

Info

Kia Corp. freut sich über Rekorde: 2024 wurden weltweit 3,09 Millionen Autos verkauft, so viele wie noch nie zuvor. Auch in Europa wurde mit knapp 600.000 Autos ein neuer Bestwert ­erzielt. Bestseller war einmal mehr das Modell Sportage mit mehr als 587.000 verkauften Einheiten. Der Umsatz des Unternehmens lag bei 112,5 Billionen Won (ca. 71,1 Milliarden Euro), der operative Gewinn bei 12,67 Billionen Won (ca. 8 Milliarden Euro) – beides sind jeweils Höchstwerte in der Firmengeschichte. Das Unternehmen mit Sitz in Seoul notiert an der Börse Korea Exchange und ist mehrheitlich im Besitz der Hyundai-Gruppe, die aus der ­eigenen Kfz-Marke und Kia den drittgrößten Automobilproduzenten der Welt formte. Der batteriebetriebene Kia EV3 wurde 2025 zum „World Car of the Year“ gewählt.