Essay – Agenda 2040

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Der Autor: Nils Langhans ist Gründer und Geschäftsführer der Strategieberatung KAUFMANN / LANGHANS. Er berät Unternehmen in den Bereichen Strategy Making, Business Model Design und Equity Storytelling und hat Start-ups aus unterschiedlichen Industrien von der Pre-Seed-Finanzierung bis zum IPO bei der Entwicklung ihrer Equity Story unterstützt.

Wie Europa wieder Weltspitze werden könnte

Europa, einst wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und technologischer Vorreiter, steht am Scheideweg. Während die USA und China scheinbar unaufhaltsam ihre Führungsrolle in immer mehr Schlüsseltechnologien ausbauen, droht der alte Kontinent den Anschluss zu verlieren. Zu wenige Innovationen, steigende Energiepreise und bedrohliche strategische Abhängigkeiten – die Aussichten für Europa sind düster. Zeit also für einen Abgesang? Nicht unbedingt, denn eine mutige Agenda 2040 könnte Europa tatsächlich wieder an die Weltspitze heranführen.  Text: Nils Langhans

Die Weltmarktführer von morgen entstehen woanders

Eines der dringlichsten Probleme Europas ist die inzwischen massive Innovationsschwäche. Über die vergangenen beiden Jahrzehnte hat sich Europa auf der Stärke alter Industrien ausgeruht, während die USA und China enorme Fortschritte in praktisch allen disruptiven Technologien gemacht haben. Die Konsequenz: Im Bereich der künstlichen Intelligenz etwa hinkt Europa scheinbar hoffnungslos hinterher. 70 Prozent der global relevanten KI-Modelle stammen aus den USA. Nicht viel rosiger sieht es im Bereich der Quantentechnologie aus – fünf der wertvollsten zehn Unternehmen sitzen in den USA, vier in China und das verbliebene zehnte leider auch nicht in der EU. Kein Wunder, dass heute nur noch vier der weltweit führenden 50 Tech-Unternehmen aus Europa kommen.

Tendenz: weiter sinkend. Denn der Zugang zu Risikokapital, das essenziell für das Wachstum der Marktführer von morgen ist, ist in Europa im Vergleich zu anderen Weltregionen noch immer schwierig. So beträgt der Anteil des globalen Venturecapitals, das in der EU investiert wird, nur einen Bruchteil des Geldes, das in den USA in Start-ups gepumpt wird. Es wundert daher nicht, dass viele erfolgreiche europäische Start-ups bei wachsendem Kapitalbedarf in die Staaten abwandern – samt Wertschöpfung und Arbeitsplätzen. 40 der 147 Unicorns, die zwischen 2008 und 2021 in Europa gegründet wurden, haben inzwischen ihren Hauptsitz ins Ausland verlegt, die meisten in die USA. All dies hat gravierende mittel- und langfristige Folgen: Europa droht den Anschluss in Schlüsseltechnologien, die für das wirtschaftliche Wachstum der Zukunft entscheidend sind, zu verlieren. Was wiederum bedeutet: Europa verspielt seine Souveränität und wird immer mehr zum bloßen Absatzmarkt für amerikanische oder chinesische Produkte. Ein Trend, der sich bereits heute bei künstlicher Intelligenz, aber auch in den Bereichen Cloud-Infrastruktur, Halbleitertechnologie oder Batterietechnologie zeigt. Wenn Europa es also ernst meint mit dem Ziel, bis 2040 wieder Weltspitze zu werden, müssen die Investitionen in Zukunftstechnologien wie KI, Robotik, Quantencomputing oder Biotechnologie drastisch erhöht werden.

Fehlende Fachkräfte und mangelhafter Forschungstransfer verschärfen das Problem

Doch Investitionen allein reichen nicht. Es braucht rasch Lösungen für weitere strukturelle Probleme. Da ist zum einen der Fachkräftemangel: Europa bildet zu wenige Absolventen in den entscheidenden MINT-Fächern aus. Während die USA jährlich über 1.100 MINT-Absolventen pro Million Einwohner hervorbringen, liegt Europa bei nur 850. Ein Mangel, der nicht nur die Innovationskraft behindert, sondern auch das Wachstum vielversprechender Industrien. Zum anderen hapert es beim Forschungstransfer. Zwar hat Europa noch immer eine starke Position in der Grundlagenforschung – 2021 entfielen 17 Prozent der weltweiten Patentanmeldungen auf Europa (im Vergleich zu 21 Prozent in den USA und 25 Prozent in China) –, doch die EU wandelt diese an sich gute Ausgangsposition nicht ausreichend in marktfähige Produkte und Unternehmen um. Nur etwa ein Drittel der von europäischen Universitäten und Forschungseinrichtungen angemeldeten Patente wird kommerziell genutzt. Das Problem liegt auch in der fehlenden Vernetzung: Europa hat keine Innovationscluster unter den weltweit führenden zehn, während die USA vier und China drei dieser Cluster besitzen. Diese Netzwerke sind aber entscheidend für erfolgreiche Kommerzialisierungen.

Ein Lösungsansatz liegt entsprechend im Aufbau und in der Förderung europäischer Universitätsallianzen, die grenzüberschreitend Spitzenforschung bündeln und den Transfer von Know-how in die Wirtschaft beschleunigen. Zugleich braucht es neue Strukturen, um disruptive Innovationen, die noch zu riskant für privatwirtschaftliche Investoren sind, schneller und effizienter zu fördern. Hier könnte die deutsche SPRIND, die nach dem Vorbild der DARPA geschaffene Agentur für Sprunginnovationen, als Strukturmodell für eine europaweite Förderung und Kommerzialisierung künftiger Schlüsseltechnologien dienen.

Abhängigkeiten verringern und strategische Autonomie zurückgewinnen

Zugleich muss Europa seine wohl schwierigste Aufgabe lösen: die Abkehr von fossilen Brennstoffen. Der Krieg Russlands in der Ukraine hat die Abhängigkeit Europas hier brutal offengelegt. Europäische Unternehmen zahlen heute bis zu fünfmal höhere Gaspreise als ihre amerikanischen Konkurrenten, was besonders energieintensive Industrien belastet und deren Wettbewerbsfähigkeit untergräbt. Gleichzeitig steht Europa vor der Herausforderung, seine ambitionierten Klimaziele zu erreichen.

Die Antwort auf diese scheinbar widersprüchlichen Herausforderungen darf jedoch keine Hasenfüßigkeit sein. Im Gegenteil: Eine konsequente und umfassende Dekarbonisierung bietet die Möglichkeit, nicht nur die Klimaziele zu erreichen, sondern Europa auch zu einem globalen Vorreiter für grüne Technologien zu machen und so globale Standards für erneuerbare Energien, allen voran in den Bereichen Windenergie und Wasserstoffproduktion, zu setzen. Mehr noch: Eine erfolgreiche Dekarbonisierung bedeutet nicht weniger als die langfristige energiepolitische Unabhängigkeit von – freundlich formuliert – mehrheitlich ziemlich fragwürdigen Regimen und somit einen riesigen Schritt in Richtung strategischer Autonomie für den Kontinent.

Ähnlich verhält es sich mit der Verteidigungsindustrie. Die zunehmenden geopolitischen Spannungen zeigen, wie verletzlich und abhängig Europa aktuell in Sicherheitsfragen ist. Auch hier ist Hasenfüßigkeit der falsche Weg. Um als global relevante Größe bestehen zu können, wird Europa nicht darum herumkommen, seine Verteidigungsfähigkeiten weit selbstständiger als bisher zu sichern, was massive Investitionen in eine starke Rüstungsindustrie, in Technologieführerschaft bei Verteidigungstechnologien sowie im Bereich Cybersecurity voraussetzt.

Zeit für mutige Entscheidungen

Klar ist: Europa steht an einem Wendepunkt. Die kommenden zehn bis 15 Jahre werden darüber entscheiden, ob der Kontinent den Anschluss an die globalen Führungsmächte wiederfindet oder in Irrelevanz und Kleinstaaterei zerbröselt. Es geht um nichts weniger als die Zukunft Europas: die Fähigkeit, eigenständig über seine wirtschaftliche, technologische und sicherheitspolitische Position in der Welt zu bestimmen. Mit massiven Investitionen in Forschung und Entwicklung, der Stärkung digitaler Souveränität, dem beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien und einer gestärkten Verteidigungsfähigkeit kann Europa bis 2040 nicht nur wieder Anschluss an die Weltspitze finden, sondern tatsächlich auch mehr strategische Autonomie als je zuvor erreichen. Der europäische Binnenmarkt, die größte Errungenschaft der EU, muss durch vertiefte Integration und digitale Vernetzung gestärkt werden, um Unternehmen in einem echten Binnenmarkt agieren zu lassen. Langfristig könnte eine noch engere politische und wirtschaftliche Union – in Form der Vereinigten Staaten von Europa – die Handlungsfähigkeit Europas in einer globalisierten Welt sichern. Jetzt ist die Zeit für mutige Entscheidungen – bevor es zu spät ist.  

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