Während ab den 1970ern allerorts das große Fleischer-Sterben einsetzte, entwickelte sich Radatz zum mittelständischen Konzern. Und zwar mit ganz anderen Mitteln, als es das Klischee hätte vermuten lassen.
Text: Stefan Schatz
Man muss sie „stupfen“, also vorsichtig mehrmals einstechen. Nur dann entwickelt sie das begehrte „Fusserl“. Und auf die Temperaturzufuhr achten. Der Käse im Inneren soll zwar schmelzen, aber sein Milchzucker darf nicht verbrennen. Die Käsekrainer ist eben ein sensibles Würstchen, trotzdem die jüngste kulinarische Ikone in Rot-Weiß-Rot und genau deshalb das moderne Wahrzeichen der Wiener Würstelstände. Kein Wunder also, dass es auch bei der Erfindung des Gaumenkitzels um die Wurst geht. War es ein gewisser Herbert Schuh aus Oberösterreich, der erstmals Käse ins Wurstbrät mischte? Oder doch ein Grazer? Oder stammt das Original tatsächlich von Radatz, der behauptet, die Idee sei aus einem Gespräch seines legendären Verkaufsleiters Helmut Brandl mit einem
Billa-Einkäufer entstanden?
Es geht um die Wurst
„Auch die Glühbirne hatte mehrere Väter“, beantwortet Franz Radatz die Frage mit diplomatischem Lächeln. Der eigentliche Disruptor war die Plancha, also die Grillplatte, so der Geschäftsführer und Eigentümer der gleichnamigen Unternehmensgruppe. Diese hielt Ende der Sechzigerjahre auch in den heimischen Imbiss-Stuben Einzug und brachte nicht nur die Brühkessel-Dämmerung, sondern auch die Wurstproduzenten zum Nachdenken. „Das ebnete den Weg zu höherer kulinarischer Expertise – und eben zu Brat- und Grillwürsten“, philosophiert Radatz. Außerdem, so gesteht er freimütig, habe man bei Radatz vor 15 Jahren erkannt, dass man zwar ein mit 700 Artikeln sehr breites, vielfach prämiertes und überaus wohlschmeckendes Sortiment habe, aber eben kein Leadprodukt. „Da hatten wir die Idee, unsere Käsekrainer dafür auszuwählen.“ Der Coup gelang. Die Wurst von Radatz ist heute klarer Marktführer. 13 Millionen Stück werden davon jährlich verzehrt. Mit dieser Menge könnte man den Weg von Wien bis zum Nordkap pflastern.
Anekdoten gibt es viele in der mittlerweile 63-jährigen Firmengeschichte des Unternehmens, das so gar nicht dem Klischee von der brutalen Fleischerbranche und ihrem blutigen Überlebenskampf gehorchen will. Groß und erfolgreich wurde Radatz nämlich nicht mit den Ellenbogen, sondern durch gute Ideen – und einer tatsächlich gelebten Hingabe an den Geschmack. Das Marketing ist modern und hochästhetisch, in der Bebilderung greift man gerne auf die Grande Dame der heimischen Fotokunst, Luzia Ellert, zurück. Auch die Filialen locken mit architektonischem Schick zum Besuch und haben so gar nichts mit dem schmiedeeisernen Stammtisch-Charme mancher Konkurrenten zu tun.


Eine von vielen guten Ideen: Bei Radatz bereitet man den mageren Teil des Bauchfleischs als genussfertigen Kümmelbraten zu. Ein Renner, ebenso wie die Bratwurst.
Promovierter Fleischermeister
Der heutige Chef des Unternehmens, Franz Radatz, ist promovierter Betriebswirt. Die Fleischerlehre absolvierte er trotzdem. Aus Liebe zum Geschäft seiner Eltern – neben dem Studium. Auch medizinische Berufe hätten ihn gereizt: „Viele meiner Freunde wurden Ärzte.“ In Ernährungswissenschaften ist er firm. Das Unternehmen führt der 64-jährige Wiener mit dem feinen Sinn für kultivierten Humor nicht als polternder Patriarch, sondern partnerschaftlich mit langjährigen Mitarbeitern. Er klagt auch nicht über strenge Hygienevorschriften oder überbordende Kontrollen – ganz im Gegenteil: „Wir haben schon 1995 die Zertifizierung nach ISO 9000 angestrebt, heute unterziehen wir uns pro Jahr mehr als 90 Audits. Und bei jedem davon können wir etwas lernen.“ Schließlich sei die Herstellung von Lebensmitteln eine sensible Angelegenheit. „Werden kritische Kontrollpunkte nicht eingehalten, gibt es im besten Fall ein verdorbenes Produkt. Aber im schlechtesten Fall gibt es kranke Menschen.“ Deswegen, so Radatz, könne man es mit der Hygiene gar nicht übertreiben.
Die Folge: Die Produktion im Wiener Stadtteil Neu-Erlaa mit strengen Zutrittskontrollen, rigiden Einbahnregelungen von roh zu zubereitet und penibler Sauberkeit erinnert an einen Operationssaal. War das früher nicht romantischer und irgendwie gemütlicher? Franz Radatz verdreht die Augen. „Gemütlicher? Nur wenn man es durch die rosarote Brille sieht. Die ersten Jahre, die rasche Expansion, das war nicht gemütlich, das war extrem.“
Tatsächlich wuchs das Unternehmen in den Anfangsjahren rasant. Aber der Reihe nach. Der vor drei Jahren verstorbene Franz Radatz senior, Vater des heutigen Eigentümers, entschied sich in der kargen Nachkriegszeit für eine Fleischerlehre. Der Tischlersohn wollte lieber „Würstel statt Hobelspäne essen“. Er zeigte große Begabung – und Erfolgshunger. Sein Ziel: Wurstmeister werden, die höchste Ehre, die man in diesem Beruf erreichen konnte. Die erste Lehrstelle bei seinem Onkel im niederösterreichischen Wampersdorf gab er auf, weil man ihm zu wenig beibrachte. Er heuerte lieber bei den Besten an. Und wusste: Nach der Meisterprüfung will er selbstständig werden.
Den Wurstmeister schaffte er mit 17 Jahren, 1962, mit 25 Jahren, ging sein zweiter Traum in Erfüllung: Er eröffnete sein erstes, winziges Geschäft im vierten Bezirk in Wien. Die Selchkammer war direkt im Haus, produziert wurde von früh bis spät, Ehefrau Elisabeth stand im Geschäft und verkaufte. Ihre Schwester Christi Palfrader samt Gatten Pepi – die Eltern des Kabarettisten und bekannten Schauspielers Robert – unterstützte die beiden.
Von der kleinen Gemeindewohnung in Atzgersdorf nutzte das Ehepaar Radatz eigentlich nur das Schlafzimmer. „Ich habe meine Kinder, solange sie klein waren, immer nur schlafend gesehen. Wenn ich ins Geschäft fuhr, schliefen sie noch, wenn ich nach Hause kam, schliefen sie schon wieder, dazwischen kümmerte sich ihre Großmutter um sie“, erinnerte sich Elisabeth Radatz an den harten Einsatz. Den man aber nie hinterfragte. Auch Radatz senior nicht, der hartnäckig an seinem Ziel festhielt, die beste Wurst zu leistbaren Preisen zu machen. „Anders wäre es nicht gegangen. In Wien gab es damals 3.000 Fleischereien. Wer nicht gut war, ist schnell verschwunden“, erzählte er später.

Ideen schaffen Größe
Schon in seinem zweiten Jahr als Unternehmer eröffnete er eine erste Filiale in Wien-Favoriten, kurz darauf kamen vier weitere Standorte dazu. Und die Idee, die vielen Wiener Greißler zu beliefern. Das übernahm sein Mitarbeiter Helmut Brandl, der morgens mit einem voll beladenen VW-Bus von Geschäft zu Geschäft auf Verkaufstour fuhr – und sich als Absatzgenie erwies. Das Geschäft boomte, bald platzte die Produktion aus allen Nähten. „Wir haben in der Zeit kaum geschlafen. Es ist enorm, was wir für Kraft hatten“, so Radatz senior.
1966 übersiedelte er seinen Betrieb mit sieben Mitarbeitern nach Neu-Erlaa. Dort wartete ein 900 Quadratmeter großer Vierkanthof auf neue Ideen der umtriebigen Geschäftsleute. Und davon gab es viele. Gegen eine, die ihm endgültig zum Durchbruch verhalf, wehrte sich der beherzte Unternehmer aber vehement. Die aufkommenden Supermärkte wollten die Ware verpackt haben. Der nie um ein Bonmot verlegene Unternehmer protestierte: „Die Wurst ist ein Lebewesen, die sperrt man nicht in Plastik ein.“ Schließlich fügte er sich – und eroberte erst die Kundschaft von Metro und Konsum, später dann jene einer im Aufbau befindlichen Lebensmittelkette namens Billa.
Viele weitere Ideen beflügelten das Geschäft: etwa jene, den mageren Teil aus dem Bauchfleisch herauszuschneiden und zu braten. Daraus entstand der Kümmelbraten, der schnell zum Bestseller wurde.
Längst hatte Radatz begonnen, alle Nachbargrundstücke in Neu-Erlaa aufzukaufen, die er kriegen konnte. Das Betriebsgelände wuchs bis heute auf 20.000 Quadratmeter, etwa 6,5 Millionen Würste werden dort pro Woche produziert, statistisch betrachtet beißt alle 1,16 Sekunden ein Österreicher in eine Leberkässemmel von Radatz. 23 Fleischereien und 14 Wurst-Großmärkte, in denen es nur abgepackte Ware zu kaufen gibt, betreibt das Unternehmen in Ostösterreich. Es könnten sogar noch deutlich mehr sein, es mangelt aber an geeigneten Immobilien und für neue Fleischereien an qualifiziertem Personal.
„Unsere Filialleiter müssen Tausendsassa sein“, ist sich Franz Radatz der hohen Anforderungen bewusst: Die Aufgabe umfasst nicht nur die Betreuung und den Verkauf des Fleisch- und Wurstbereichs, sondern auch die Pflege der Imbisstheke. Und die Zubereitung der Mittagsmenüs. Diese Idee geht auf Elisabeth Radatz zurück. Sie wollte damit das einst in Fleischereien übliche Mittagsloch bekämpfen. Heute verkauft Radatz täglich 3.000 Mittagessen. Geboten wird Hausmannskost, täglich frisch gekocht nach Rezepten der Großmutter, „einer begnadeten Wirtin mit Leib und Seele“, wie Franz Radatz erzählt. „Wir haben die Rezepte nie verändert, dafür gab es einfach keinen Grund.“ Er selbst ist schon früh ins Unternehmen eingestiegen. Zuerst als Ferialpraktikant, dann als Unterstützer überall dort, wo er gebraucht wurde. Hautnah erlebte er die ständige Expansion mit. Als 1997 der legendäre Salami-Erzeuger Stastnik übernommen wurde, ging für ihn ein Traum in Erfüllung. „Salami ist meine Lieblingswurst. Wir hatten einfach zu wenig Platz, um selber welche zu produzieren. Und die Stastnik-Salami war schon damals bis in die USA begehrt und ist auch heute ein Exportschlager.“
Fortschritt schmeckt besser
Bald leitete Franz Radatz das Unternehmen mit seinem Vater gemeinsam. Von ihm lernte er den gnadenlosen Fokus auf Geschmack und den unbedingten Willen zu Qualität. Die alte Generation wiederum profitierte von der Technik-Liebe des Juniors. Schon Mitte der Siebzigerjahre begann er, die Faktorierung im Geschäft auf Computer umzustellen. „Die Waagen mit einem Computer zu verbinden, war ein Millionenaufwand und enorm kompliziert. Aber obwohl meine Eltern in ihrem ganzen Leben keine Computertaste gedrückt haben, unterstützten sie meine Idee. Wir zählten Mitte der Siebziger zu den Ersten, die elektronisch fakturiert haben.“ Wahrscheinlich ist Radatz mit seiner Innovationsfreude und der Liebe zu genauen Prozessen bis heute einer der modernsten Betriebe der Branche.

Vor der Welle bleiben
Tatsächlich harmonierte das Zusammenspiel zwischen Alt und Jung hervorragend. Franz Radatz senior kümmerte sich bis zu seinem Ableben im 85. Lebensjahr um Produktion und Geschmack, sein Sohn führte genau definierte Prozesse und modernste Technik ein. „Man muss vor der Welle bleiben und maschinell am neuesten Stand sein“, so sein Credo. Er erfand auch die Morgenmeetings: Täglich um sieben treffen alle Abteilungsleiter mit der Unternehmensführung zusammen, tauschen Ideen und Feedback von Kunden aus, analysieren, wie gut neue Produkte ankommen, und diskutieren neue Ideen. Dazu gibt es Veranstaltungen mit den jungen Mitarbeitern, zu denen auch die hauseigenen Elektriker, Installateure, Buchhalter und alle anderen Gewerke eingeladen sind. „Die junge Generation tüftelt dabei gemeinsam neue Dinge aus.“ Sogar einen veganen Kochkurs hat der Fleisch- und Wurstproduzent für seine Mitarbeiter schon organisiert: „Es hat wunderbar geschmeckt“, zeigt sich Radatz gegenüber Ernährungstrends offen. „Aber es ist elendig aufwendig zu kochen“, schießt er lachend nach.
Gerade einmal warmgelaufen
Diese Offenheit, die der sportliche Unternehmer mit Liebe zu Kultur und Städtereisen gegenüber neuen Ideen hat, das Agieren auf Augenhöhe und der Respekt, den er auch jungen Mitarbeitern entgegenbringt, machen Radatz zum begehrten Arbeitgeber. Von manchen Familien ist bereits die dritte Generation in Neu-Erlaa tätig. Darauf ist Franz Radatz stolz. Natürlich braucht er jeden Umsatz, „bei diesen geringen Margen geht es gar nicht anders“. Aber Geld und Gewinn sind für ihn vor allem zum Reinvestieren da. Viel wichtiger ist ihm, die Grundidee eines Familienunternehmens zu leben: das Denken in Generationen, der Zusammenhalt, das Gemeinsame, das auch die Mitarbeiter miteinbezieht. Deshalb denkt er auch keine Sekunde daran, zurückzuschalten und leiser zu treten. Und argumentiert lächelnd: „Ich habe das Unternehmen erst mit dem Tod meines Vaters vor drei Jahren übernommen. Also bin ich ein Jungunternehmer, der gerade warmgelaufen ist. Da denkt man nicht ans Aufhören.“
INFO:
Radatz in Zahlen
Radatz betreibt 23 Fleischereien und 14 Wurst-Großmärkte, wo es neben den 900 eigenen Artikeln auch ausgesuchte Spezialitäten anderer Hersteller gibt. Wichtigstes Standbein ist der Vertrieb der Produkte über den Lebensmitteleinzelhandel, für den man mitunter auch als White-Label-Produzent tätig wird. Zur Unternehmensgruppe gehört seit 1997 der legendäre Dauerwurst- und Salamiproduzent Stastnik in Wien-Gerasdorf. Insgesamt beschäftigt die Unternehmensgruppe 890 Mitarbeiter. Der konsolidierte Umsatz lag im Geschäftsjahr 2024 bei 212 Millionen Euro, beliefert werden neben Österreich auch europäische Märkte.
Die Wurst- und Fleisch-Bibel
Zum 60er schenkte sich Radatz ein atemberaubend schönes Kochbuch. ISBN: 978-3903461000